Bert hielt sich in den letzten Tagen, nein: Wochen, Monaten, keine einzige Sekunde in seinem Atelier im Dachgeschoss eines alten Bauernhauses auf, sondern verbrachte seine freie Zeit am Schreibtisch, genauer: an seinem neuen Spielzeug, einem digitalen Bildbearbeitungsprogramm. Über die Jahre hinweg hatte er hunderte, wenn nicht gar tausende von Fotografien seines treuen Albinokaninchens, dem er aus Jux den Namen Olt gegeben hatte und das alljährlich von der Schlachtbank verschont blieb, da es sich als geduldiges Modell erwies, angefertigt, die er nun endlich zu überarbeiten gedachte. Er experimentierte mit Filtern, mit Masken, probierte sämtliche Transformationseffekte aus, die das Programm ihm zu bieten hatte, er justierte Gradationskurven, manipulierte Tonwerte, dehnte und verzerrte in seinem nicht enden wollenden Wahn die Bilder Olts, die immer stärker zu Versuchskaninchen seiner Besessenheit wurden. Immer wieder machte er sich daran, in die dilettantische Ästhetik seiner ersten Versuche einzugreifen, machte misslungene Schritte rückgängig und speicherte jeden Zwischenstand ab. Überhaupt liebte Bert das Undo sehr, erlaubte es diese Funktion ihm doch, seiner Kreativität ohne Angst völlig freien Lauf zu lassen, Olt etwa bedenkenlos zu einem unansehnlichen Ungeheuer aufzublasen, ihm schwarzes Fell und grausig leuchtende Augen zu verpassen, um ihn dann mit einem Mausklick wieder in das harmlose Kaninchen zurückzuverwandeln, das er nun einmal war.
Nachdem Bert schließlich so etwas wie Expertise auf diesem Gebiet erreicht hatte, ja sogar bereits die ein oder andere Ausstellung mit seinen digitalen Bildern bestückt hatte, sehnte er sich wieder nach echter Farbe, nach dem beißenden Geruch von Öl und Terpentin. Inspiriert von den teils psychedelisch anmutenden Ergebnissen seines Photoshop-Exzesses, stapfte er am Nachmittag eines regnerischen Tages um 15:24 Uhr endlich einmal wieder in sein ihm so vertrautes Atelier, in sein altes Reich, um eines seiner digitalen Kaninchen in Malerei umzusetzen. Ebenso wie sein prominenter Namensvetter schon 1931 konstatiert hatte, dass der Filmsehende Erzählungen anders liest als derjenige, der keine Filme rezipiert, umgekehrt aber auch der Schriftsteller die filmischen Konventionen in sein literarisches Werk übernähme, musste Bert nun seinerseits feststellen, dass er nicht nur seine alten Gemälde durch die Brille eines an digitaler Bildbearbeitung Geschulten sah, sondern auch die Arbeitsweise an seinem neuen Projekt der spezifischen Prozesshaftigkeit digitaler Bildbearbeitung unterlag. Statt seine Vorlage systematisch zu kopieren, legte Bert Ebene über Ebene und verteilte die Farben in großen Mengen auf der Leinwand. Plötzlich hielt er für einen Augenblick inne und betrachtete sein Ergebnis. Er war damit nicht zufrieden, ja sogar ganz und gar unzufrieden. Die letzte, voreilig aufgetragene Farbschicht – ein gebrochenes Dunkelgrün – hatte die Wirkung seines subtilen Farbspiels völlig zerstört. Reflexartig dachte Bert daran, die Transparenz dieser Ebene einfach ein wenig zu mindern oder gar diesen Schritt vollständig rückgängig zu machen. Er torkelte zurück, denn es wurde ihm schlagartig bewusst, dass dies nicht ging, er konnte ihn nicht rückgängig machen – so wie bei seinem Bildbearbeitungsprogramm, an das er sich so sehr gewöhnt hatte. Voll innerer Verzweiflung sah Bert sein Können schwinden und sank erschöpft zu Boden. Eine zähe Müdigkeit überfiel ihn, so dass er innerhalb weniger Sekunden weggenickt war.
Olt, zum sinnbildlichen Opfer des misslungenen Versuchs medialer Transformationen geworden, hoppelte um 19:02 Uhr an Berts gekrümmten Körper vorbei, beschnupperte dessen Gesicht und guckte ihn aus seinen roten Augen vorwurfsvoll an. Der Künstler schreckte aus seinem traumlosen, aber dennoch unruhigen Schlaf hoch, erwiderte Olts Blick mit einer eisigen Kälte, so als sei Olt allein für sein Versagen verantwortlich, und griff wütend nach dem Tier. Ruhig betrachtete er es von allen Seiten, dann schleuderte er es angewidert von sich und brach Olt dabei die Ohren.
Die Referenz auf Bertolt Brecht stammt aus Christopher Balmes Aufsatz „Theater zwischen den Medien: Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung“, der 2003 in dem Sammelband „Crossing Media“ erschien. Brechts auf die Intermedialitätsdebatte bezogene Beschreibung des oben genannten Phänomens aus dessen Schrift „Über die Dreigroschenoper“, die auf der zwanzigsten Seite des Bandes von Balme zitiert wird, inspirierte mich zu vorliegendem Text.
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